Wenn alles aus der Reihe läuft, stehen alle Schlange

Die Schlange als Sinnbild des sozialen Zerfalls

Es gibt Momente im Leben, da erkennt man, dass die Menschheit von einer grausamen Ironie gesteuert wird. Einer Ironie, die sich auf den Schultern der Geschichte niedersetzt wie ein zu schwer geratener Rucksack vollgepackt mit den Illusionen vergangener Ideologien. Und wenn alles aus der Reihe läuft, dann stehen alle Schlange – dieses unscheinbare Phänomen, das in jedem chaotischen Zustand zum Symptom eines tieferliegenden gesellschaftlichen Kollapses wird. Wer das nicht kennt, der hat nie im Osten gelebt.

Doch bevor man hier das große Rad der Nostalgie dreht, sei klargestellt: Die Schlange, ob an der Kasse oder an der Grenze des freien Denkens, ist nicht bloß ein banales Übel. Sie ist vielmehr das schleichende Eingeständnis, dass man nicht mehr Herr über die eigenen Wünsche ist. Dass der Wunsch, etwas zu besitzen oder gar zu erleben, immer häufiger in Konflikt mit der Realität gerät. Es ist die Demütigung, die Erkenntnis, dass wir nicht mehr einkaufen nach dem Motto „Ich will“, sondern resigniert fragen müssen: „Was gibt’s?“ Willkommen in der neuen Weltordnung des Mangels, wo die Schlange kein Zeichen der Ordnung ist, sondern die Anklage an ein System, das es nie ernst meinte mit dem Fortschritt.

Von der Illusion des Konsums zur Realität des Mangels

Wohl dem, der glaubt, der Osten – ja, jener Osten, der so gerne als trauriges Beispiel für Planwirtschaft und Mangelwirtschaft herhalten muss – sei eine längst vergessene Anekdote der Geschichte. Falsch gedacht. Heute, im Zeitalter des überbordenden Konsums, stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Version desselben alten Dramas. Es ist, als habe die Geschichte nichts Besseres zu tun, als sich selbst in Form einer besonders zynischen Farce zu wiederholen. Doch dieses Mal sind es nicht die grauen Betonplatten der DDR, die uns in die Schranken weisen, sondern die wohlgemeinte Überkorrektheit des globalen Neoliberalismus, in Verbindung mit den unerschöpflichen Kapriolen der Wokeness.

Stellt euch vor, ihr geht in den Supermarkt. Das Regal, wo früher die exotischen Früchte lagen, ist leer. Nicht, weil wir plötzlich keine Bananen mehr importieren können, sondern weil jemand in der „nachhaltigen Ethikkommission“ beschlossen hat, dass Bananen in Österreich gar nicht gut fürs Klima sind. Stattdessen gibt es da ein Regal voller regionaler Rüben und eine Art moralischen Zeigefinger, der euch mit einem gehässigen Blick klar macht, dass ihr gefälligst dankbar zu sein habt. „Was gibt’s?“ ist die Frage, die uns im neuen Zeitalter des Mangels täglich quält. Wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual – doch was ist, wenn man keine Wahl mehr hat?

Die Kunst des Schlangestehens als Überlebenstechnik

Der Westen, so hieß es lange Zeit, ist der Ort der Freiheit. Doch wie sich herausstellt, sind wir im Begriff, jene „Freiheit“ auf eine Weise neu zu definieren, die selbst George Orwell vor Entsetzen die Tinte aus dem Füllfederhalter getrieben hätte. Freiheit bedeutet heute, in einer Schlange zu stehen – ja, nicht bloß das Warten, sondern das geduldige Akzeptieren einer intransigenten Moral. „Nachhaltigkeit“, „Fairness“ und „soziale Gerechtigkeit“ sind die Losungen des modernen Schlangestehens. Es gibt nicht mehr genug für alle? Tja, Pech gehabt. In Zeiten des Klimawandels und der sich verdichtenden globalen Krise ist es einfach nicht mehr schick, an Konsumüberfluss zu glauben. Stattdessen reiht man sich brav in die Warteschlange ein, um dem Guten – oder vielmehr dem vermeintlich Guten – zu dienen.

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Wer früher in der DDR einkaufen ging, wusste, dass der Akt des Einkaufens keine Frage des Willens war, sondern des Ausharrens. Das System gab vor, was es gab. Die westliche Konsumgesellschaft hat lange die Illusion gepflegt, dass jeder Wunsch erfüllt werden könnte, sofern man nur bereit war, den Preis dafür zu zahlen. Heute? Heute stehen wir vor den Trümmern dieser Illusion, gefangen in der grotesken Wirklichkeit einer Moralökonomie, die uns vorgibt, was wir zu wünschen haben. Der Klimanotstand, die Gleichstellung, die digitale Kontrolle – all das hat uns zu perfekten Schlangenmenschen gemacht. Ein System, das alles aus der Reihe laufen lässt, bringt uns bei, dass Schlangestehen die neue Tugend ist.

Willkommen im moralischen Zeitalter des Schlangestehens

Man könnte meinen, Schlangestehen sei ein eher triviales Thema. Doch weit gefehlt. Wer in einer Schlange steht, hat seine Autonomie aufgegeben. Es ist die ultimative Unterwerfung unter die Bedingungen des Systems, eine stille Kapitulation vor den Gesetzen der Knappheit, die uns immer häufiger wie ein Damoklesschwert über den Köpfen hängt. Früher hat man die Dinge gewollt, heute nimmt man, was man kriegen kann. Und wenn wir uns nicht langsam daran gewöhnen, dann wird uns die Zukunft noch viel härter treffen.

Wollen wir das wirklich? Diese Frage, so simpel sie klingt, lässt sich nicht mehr in moralische Gut-und-Böse-Kategorien packen. Denn das wahre Drama liegt nicht darin, dass wir in einer Welt des Mangels leben könnten. Das wahre Drama ist, dass wir uns nicht trauen, diese Frage überhaupt zu stellen. Wokeness und all die anderen progressiven Parolen mögen als Befreiung verkauft werden, doch sie haben längst den Raum des freien Denkens besetzt – und ersetzen den Mangel an Brot mit einem Mangel an geistiger Nahrung.

Wir stehen Schlange, weil wir nicht mehr entscheiden dürfen, was wir wollen. Und wenn alles aus der Reihe läuft, dann haben wir es uns selbst zuzuschreiben. Denn Schlangen entstehen nicht durch Zufall. Sie sind das Produkt eines Systems, das jeden Aspekt des Lebens regelt – von der Sprache über das Denken bis hin zum Konsumverhalten.

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Der Mangel als Tugend

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der das Schlangestehen zu einem Symbol unserer Zeit macht: die moralische Aufladung des Mangels. Früher war der Mangel ein Zustand, den es zu überwinden galt. Heute wird er zur Tugend erhoben. „Weniger ist mehr“ – diese Floskel mag in der Designwelt ihre Berechtigung haben, doch im Alltag wird sie zur Geißel. Es ist keine Frage mehr, ob wir Verzicht üben wollen; es ist eine Notwendigkeit, die uns als moralische Pflicht auferlegt wird. Wer mehr will, als ihm zusteht, der wird als Egoist abgestempelt, als Feind des Planeten, als Ignorant gegenüber den Nöten der Mitmenschen.

Während wir uns also dem Mangel beugen, stehen wir Schlange – nicht nur an den Kassen der immer leereren Supermärkte, sondern auch in den Reihen derer, die bereit sind, ihre Wünsche zu unterdrücken, um das große Ganze nicht zu gefährden. In einer Welt, die den Konsum verteufelt und den Verzicht als höchste Form der Erleuchtung preist, bleibt uns nur noch das geduldige Warten. Wir warten auf das nächste politisch korrekte Produkt, auf die nächste ideologisch gereinigte Innovation, die uns glauben lässt, dass der Verzicht die Lösung für all unsere Probleme sei.

Willkommen in der Schlange der Geschichte

Wer im Osten gelebt hat, der kennt das Prinzip: Du willst nicht das, was du willst. Du willst das, was du kriegen kannst. Und dieses Prinzip ist längst auch im Westen angekommen. Wir stehen Schlange, weil wir uns daran gewöhnt haben. Wir stehen Schlange, weil wir nicht mehr anders können. Und vielleicht stehen wir Schlange, weil wir die Illusion brauchen, dass alles schon irgendwie gut wird, wenn wir nur lange genug ausharren. Doch in Wahrheit stehen wir Schlange, weil das System uns dazu gebracht hat, unsere eigenen Wünsche zu vergessen.

Es ist kein Zufall, dass das Schlangestehen heute wieder zum Symbol der Zeit geworden ist. Es ist der Ausdruck einer kaputten Ordnung, die keine Wahl mehr lässt. Wenn alles aus der Reihe läuft, stehen alle Schlange – und das ist nicht nur ein ökonomisches Phänomen, sondern ein moralisches. Die Schlange ist das Sinnbild einer Gesellschaft, die ihren moralischen Kompass verloren hat und sich in den Wirrnissen der politischen Korrektheit verirrt. Und solange wir das nicht erkennen, werden wir weiter warten. Auf bessere Zeiten, auf gerechtere Verhältnisse, auf eine neue Ordnung, die nie kommen wird.

Quellenangaben, Verweise und weiterführende Links:

  1. George Orwell, 1984 – Ein Klassiker über die totale Kontrolle und den Verlust von Individualität, der erschreckende Parallelen zur heutigen Gesellschaft aufzeigt.
  2. Vaclav Havel, Die Macht der Ohnmächtigen – Ein brillantes Essay über die Unterdrückung des freien Denk
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