Von der Tugend zur Last der Neutralität

Neutralität. Ein Wort, das in Österreich so geliebt und hochgehalten wird wie der Wiener Kaffeehausbesuch oder die Sachertorte. Es ist ein Konzept, das sich Österreich wie einen Ehrenorden ans Revers heftet, ein moralisches Erbe, das aus jeder politischen Rede, jedem diplomatischen Pamphlet, jeder historisch gefärbten Diskussion herausdröhnt. „Wir sind neutral!“ tönt es wie ein Mantra, das in seiner endlosen Wiederholung fast schon eine hypnotische Wirkung auf die österreichische Bevölkerung ausübt – die zwar keine Ahnung hat, was das in der heutigen Welt eigentlich bedeutet, aber stolz darauf ist, es zu verkünden. Doch was steckt wirklich dahinter?

Österreichische Neutralität – ein Relikt aus dem Kalten Krieg, eingeführt 1955, als das Land nichts anderes war als ein geopolitisches Bauernopfer im Schachspiel der Großmächte. Damals war es vielleicht ein kluger Schachzug: Sich aus den Machtkämpfen zwischen Ost und West herauszuhalten, die Füße stillzuhalten und damit den Wiederaufbau zu sichern. Doch heute? Heute ist diese Neutralität ein Konstrukt, das wie eine ehrwürdige Kirchenfassade wirkt, hinter der längst der Putz abbröckelt. Die moralische Überlegenheit, die man sich damit auf die Fahnen schreibt, ist ein hübscher Vorwand, um politische Ambivalenz zu kaschieren und Verantwortung zu vermeiden.

Ein Land ohne Feind – ein Land ohne Haltung

Wenn man den typischen Österreicher fragt, worauf er in seiner Landesgeschichte stolz ist, wird man unweigerlich den Begriff der Neutralität hören. Dabei stellt sich die Frage: Was bedeutet Neutralität eigentlich in einer Welt, die von Ungerechtigkeit, Krieg und geopolitischen Krisen gebeutelt wird? Bedeutet es, dass man sich heraushält, dass man nicht Partei ergreift – egal, wie unmoralisch oder ungerecht die Umstände sind? Ist das wirklich eine Tugend oder vielmehr eine schleichende Kapitulation vor der Verantwortung?

Österreich sonnt sich in seiner selbst deklarierten Rolle als moralische Instanz, die – weil sie ja neutral ist – quasi automatisch über den Dingen steht. Man beteiligt sich nicht an internationalen Konflikten, weil man ja so „edelmütig“ ist. Man setzt sich an den Verhandlungstisch, schüttelt Hände und lächelt milde in die Kameras, während anderswo die Bomben fallen. Ist das wirklich Moral? Oder ist es nicht eher die plumpe Weigerung, eine klare Haltung einzunehmen?

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Die Neutralität als bequemes Versteck

Betrachten wir die Realität: Die österreichische Neutralität ist vor allem eines – bequem. Sie erlaubt es, sich nicht entscheiden zu müssen. Man kann auf der einen Seite mit dem Westen fraternieren, Mitglied der Europäischen Union sein, die wirtschaftlichen Vorteile genießen und gleichzeitig das „gute“ Gewissen behalten, weil man ja offiziell „neutral“ ist. Auf der anderen Seite kann man Russland oder China die Hand reichen und sich stolz als Brückenbauer präsentieren.

In Wahrheit ist die Neutralität längst ein leerer Mantel geworden, den Österreich über seine Opportunismen legt. Sie ist ein Freibrief, sich aus der Weltpolitik zurückzuziehen und in einer Blase der Selbstgerechtigkeit zu verharren. Während andere Nationen zumindest versuchen, in Krisen Position zu beziehen – ob richtig oder falsch sei dahingestellt – tut Österreich das, was es am besten kann: Nichts. Es schaut zu und rühmt sich seiner „Zurückhaltung“. Diese Zurückhaltung ist jedoch nichts anderes als politische Feigheit im moralischen Kostüm.

Die Dialektik der moralischen Überlegenheit

Man könnte fast glauben, Österreich betrachte sich als das moralische Gewissen Europas, eine Art postmodernes Gewissen, das durch seine bloße Neutralität über den schmutzigen Realitäten der internationalen Politik steht. Doch in Wahrheit hat sich das Land damit in eine moralische Sackgasse manövriert. Die ewige Neutralität hat einen Widerspruch geschaffen, in dem das Land gefangen ist: Es möchte moralisch erhaben erscheinen, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen. Doch wahre Moral setzt Handeln voraus, nicht nur das bloße Nicht-Handeln.

Moralisches Verhalten in einer globalisierten Welt bedeutet, sich den Herausforderungen zu stellen, sich zu positionieren und unter Umständen auch Risiken einzugehen. Neutralität hingegen bedeutet, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Es bedeutet, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und sich auf eine bequeme, aber letztlich feige Position zurückzuziehen.

Der Spagat zwischen EU-Mitgliedschaft und Neutralität

Ein weiterer Widerspruch liegt in der Tatsache, dass Österreich Mitglied der Europäischen Union ist, die sich bekanntlich als Wertegemeinschaft versteht. Die EU steht für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Doch Österreich, so stolz auf seine Neutralität, scheint dieses Konzept nur halbherzig zu unterstützen. Es hält sich fein heraus, wenn es um militärische oder sicherheitspolitische Einsätze geht. Die Verantwortung sollen doch bitte andere übernehmen, während Österreich mit moralisch rein gewaschenen Händen zuschaut. Eine doppelte Moral?

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Diese ambivalente Haltung wird immer dann besonders offensichtlich, wenn es um Sanktionen gegen autokratische Regime oder Menschenrechtsverletzungen geht. Österreich erklärt sich oft solidarisch, verhängt Sanktionen – um dann, sobald die Kameras aus sind, ein Augenzwinkern mit den betroffenen Staaten auszutauschen und weiter fleißig Wirtschaftsbeziehungen zu pflegen. Neutralität und Pragmatismus scheinen in Österreich Synonyme geworden zu sein, beide getarnt als moralischer Sonderstatus.

Neutralität – der Stolz einer verblassenden Vergangenheit

Es wäre zu einfach, diese österreichische Neutralität nur zu belächeln. Sie ist mehr als ein politisches Konstrukt; sie ist Teil des nationalen Selbstverständnisses, ein nostalgischer Bezugspunkt in einer Welt, die sich rasant verändert. Doch der Stolz auf die Neutralität beruht auf einer Vergangenheit, die längst nicht mehr existiert. Österreich ist kein geopolitischer Spielball zwischen den Supermächten mehr, der sich durch Neutralität eine Existenzberechtigung verschaffen muss. Im Gegenteil: Das Land ist längst Teil eines größeren, internationalen Netzwerks, und die vermeintlich „neutrale“ Haltung hat keinen Platz mehr in einer Welt, die von globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Kriegen und sozialen Ungerechtigkeiten geprägt ist.

Die Zeit der Neutralität ist abgelaufen. Was früher eine taktische Entscheidung war, ist heute zu einer moralischen Ausrede verkommen. Die Neutralität dient nicht mehr dem Frieden, sondern der Selbstverleugnung. Sie verhindert, dass Österreich eine Rolle spielt, die über diplomatische Plattitüden hinausgeht.

Schluss: Der Mut zur Entscheidung

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass Österreich endlich den Mut aufbringt, seine Rolle in der Welt neu zu definieren. Weg von der Scheinneutralität, hin zu einer aktiven, verantwortungsbewussten Politik, die sich den Herausforderungen der Zeit stellt. Neutralität mag in einer bipolaren Welt des Kalten Krieges einen Sinn gehabt haben, doch in einer multipolaren Welt, die von globalen Krisen geprägt ist, wirkt sie nicht nur antiquiert, sondern geradezu zynisch.

Es ist Zeit, die Fassade der moralischen Überlegenheit fallen zu lassen und sich den Realitäten zu stellen. Österreich kann und muss mehr sein als ein Zaungast der Weltgeschichte. Der selbst erklärte moralische Sonderstatus ist in Wirklichkeit nichts weiter als eine bequeme Illusion. Der wahre Mut besteht darin, Partei zu ergreifen – nicht nur aus moralischen Gründen, sondern aus Verantwortung gegenüber einer Welt, die sich Veränderung wünscht.

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