Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein

… und hüte dich vor der Realität des Jahres 2024

„Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein“, trällerte die unbeschwerte Stimme der jungen Cornelia Froboess im Jahre 1951. Ein Schlager, der den Berliner Kindern mit unschuldiger Leichtigkeit suggerierte, dass es nichts Schöneres gebe, als mit den kleinen Geschwistern das Strandbad Wannsee zu erobern. Hier herrschten in der Vorstellung heile Welt, grenzenlose Freiheit und der Duft von Sonnencreme, als wäre die Welt mit einem einzigen Eimer Sand gebaut – und natürlich genauso stabil.

Doch was damals ein nettes Bild einer scheinbar perfekten Nachkriegssommeridylle malte, wirkt heute wie eine groteske Reminiszenz an eine Zeit, in der Probleme im besten Fall weggelächelt und im schlechtesten Fall ignoriert wurden. Willkommen in 2024, wo „Badefreuden“ nicht mehr nur ungetrübtes Planschen im glitzernden Wasser bedeuten, sondern wo Eltern den Strandsack lieber mit einer gehörigen Portion Argwohn packen sollten – besonders, wenn das „kleine Schwesterlein“ dabei ist. Denn während die Badehose noch immer die Eintrittskarte zum Spaß zu sein scheint, hat sich die Realität hinter den Kulissen des Freibads auf erschreckende Weise geändert.

Gaffen, Grapschen, Schweigen

Im Jahr 1951 war der größte Albtraum wohl ein Sonnenbrand oder ein verlorenes Gummitierchen. Aber in der Gegenwart verbirgt sich hinter dem verheißungsvollen Plätschern des Wassers eine bedrohliche Unsichtbarkeit: sexuelle Belästigung. Gaffen unter der Dusche, Grapschen unter Wasser – es sind keine Schreckensszenarien, die nur in düsteren Hollywoodthrillern vorkommen, sondern bittere Realität in vielen deutschen Schwimmbädern. Und anders als das gleißende Sonnenlicht, das in klarem Blau über den Becken glitzert, bleiben die Übergriffe oft unsichtbar. Denn wenn im Wasser die Hand zu nah kommt, wenn sich in der Umkleide Blicke auf die falschen Stellen richten, dann schweigen die Opfer – aus Angst, aus Scham, aus Ohnmacht.

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Aber keine Sorge, liebe Eltern: Natürlich gibt es auch weiterhin Eiscreme und Pommes am Kiosk. Ein überzuckerter Trost für die moderne Badegesellschaft, die dem Kind in einem Atemzug „Pass auf im Wasser!“ hinterherruft, während im stillen Bewusstsein mitschwingt: „Pass besser auf dich auf.“ Und so ist der Schlager mit seiner unbeschwerten Fröhlichkeit eine bittere Farce für das Jahr 2024 – ein Jahr, in dem man die Badehose zwar einpackt, die Badefreude aber besser zu Hause lässt.

Freibad als Spiegelbild einer Gesellschaft im Rückzug

Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus? „Pack die Badehose ein“ war das Erkennungszeichen für sorglose Kindheitstage. Heute wird das „Einpacken“ zu einer mentalen Aufrüstung: Pack ein, was du brauchst, um deine Kinder zu schützen. Ein Extra-Schutzschild gegen die Unsichtbaren. Denn „die anderen“ sind immer irgendwo – die Gaffer, die Grapscher, die, die es auf die körperliche Unversehrtheit der Jüngeren abgesehen haben.

Es sind nicht die plumpen Typen mit Trenchcoat und dunkler Brille, die durch die Badeanstalt schleichen. Nein, das Gesicht des Belästigers ist heute anonym, vielleicht trägt es sogar Badelatschen wie du. Sexualisierte Gewalt, das ist der neue Spanner am Beckenrand – unsichtbar, aber allgegenwärtig. Und wir, die Gesellschaft, stehen daneben, mit den Füßen im seichten Wasser, und hoffen, dass es schon nicht so schlimm ist. Ein bisschen Kneifen im Wasser? Die tun doch nichts. Die sind halt so. Ein Satz, so tödlich für die kindliche Unschuld wie ein Steinwurf ins tiefe Wasser.

Ein Aufruf zum kollektiven Wegsehen

Das Wort „Schwimmbad“ kommt heute nicht mehr ohne ein mulmiges Gefühl. Es ist kein Zufluchtsort mehr, sondern eine soziale Arena, in der die Machtverhältnisse vernebelt sind. Wer hat hier die Kontrolle? Das hilflose Schwimmbeckenpersonal, das die Eindringlinge mit schlecht sitzenden Badekappen verjagt? Die Eltern, die sich zwischen Sonnenmilch und Schutzmaßnahmen entscheiden müssen? Oder doch die Täter selbst, die sich lächelnd im Schatten der Unaufmerksamkeit bewegen?

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Die stille Zustimmung zur Unsichtbarkeit des Problems ist das größte Problem von allen. Denn während die Schlagerwelt von 1951 eine perfekte Sommeridylle vorzeichnete, haben wir es geschafft, diese Idylle in die Dunkelheit zu schieben. Alles ist wunderbar, so lange wir nicht genau hinsehen. Und so gehen wir weiter ins Schwimmbad, als ob nichts wäre, als ob die Badefreuden ungetrübt wären – das kleine Schwesterlein fest an der Hand, aber immer mit einem wachsamen Auge auf die Realität gerichtet. Aber wie viele Augen braucht es noch, bis wir aufwachen?

Willkommen im Jahr 2024

„Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein“ – klingt das nicht nach einem schlechten Witz, wenn man 2024 an den Rand des Schwimmbeckens tritt? Vielleicht sollten wir den Text etwas anpassen: „Pack den Pfefferspray ein, nimm die Überwachungskamera mit.“ Ein bisschen überspitzt, oder? Aber so, wie die Dinge laufen, klingt das immer weniger nach Satire und immer mehr nach einer unbequemen Wahrheit. Am Ende bleibt ein bitteres Lächeln und die Frage: Wann hat sich das unschuldige Baden eigentlich in eine solche Farce verwandelt?

Doch bevor wir zu pessimistisch werden – vielleicht gibt es noch Hoffnung. Vielleicht gibt es eines Tages wieder einen Sommer, in dem die Kinder unbeschwert ins Wasser springen können, ohne Angst vor dem, was unsichtbar unter der Oberfläche lauert. Vielleicht. Doch bis dahin sollten wir die Badehose besser nur mit Vorsicht einpacken – und das kleine Schwesterlein lieber nicht mitnehmen.

Quellen und weiterführende Links

  1. Polizei-Bericht Berlin 2023: Anstieg sexueller Übergriffe in Schwimmbädern
    Link zur Polizei-Statistik
  2. „Schwimmen lernen – aber sicher“: Eine Initiative für sicheres Badeverhalten und Prävention
    Link zur Initiative
  3. Statistisches Bundesamt Deutschland: Fälle von sexueller Belästigung im öffentlichen Raum
    Link zum Bundesamt
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