Nach der Wahl ist vor der Wahl – Zurück bleiben nur Sieger
Ein sardonischer Blick auf das politische Endloskarussell
Die Demokratie ist, so sagt man, die beste aller schlechten Regierungsformen. Und was wäre eine Demokratie ohne die regelmäßige Wahlfarce, bei der Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, sie hätten tatsächlich einen Einfluss auf die Richtung, in die der Staat schippert? Die Realität aber sieht anders aus. Nach jeder Wahl haben wir es mit einer merkwürdigen Regelmäßigkeit zu tun: Alle sind Sieger. Keine Verlierer. Keine Schuldigen. Keine Verantwortung. Die Wahl mag vorüber sein, aber die eigentliche Show beginnt erst danach – das ewige Schauspiel, bei dem sich Politiker wie Pfauen aufplustern und den Wählerinnen und Wählern versichern, dass sie genau richtig gewählt haben. Und der Rest? Der ist einfach zu doof, das zu erkennen.
Wahlkampf: Die große Lotterie der Eitelkeiten
Vor der Wahl geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Überall sind die Stände aufgebaut, die bunten Lichter blinken, und die Politiker verkaufen uns die immergleichen Wunderprodukte, die wir nie bekommen werden. „Mehr Gerechtigkeit“, „Mehr Sicherheit“, „Mehr Fortschritt“ – das sind die Losnummern, die uns in die Hand gedrückt werden. Jeder weiß, dass er nichts gewinnt, aber irgendwie spielt man doch mit. Es ist ein Ritual, dem wir uns alle unterwerfen, weil wir gelernt haben, dass dies die einzige Möglichkeit ist, die Illusion der Teilhabe am politischen Geschehen aufrechtzuerhalten.
Der Witz ist: Jeder Wahlkampf ist im Grunde ein grandioses Nichts. Es geht nicht um Ideen, nicht um Konzepte, nicht um das Wohl des Volkes. Es geht nur um Macht, und zwar nicht einmal besonders elegant verpackt. Und doch stehen wir jedes Mal wieder da, staunend wie Kinder vor dem Zirkus, und glauben – oder tun zumindest so – dass diesmal etwas anders sein könnte. Dieses Mal könnte sich die Politik tatsächlich ändern. Dieses Mal könnte alles besser werden. Und dann betreten sie die Bühne: dieselben alten Gesichter, die uns dieselben alten Lügen erzählen. Aber wir spielen mit. Wir nicken, wir applaudieren, und wir stimmen zu, weil wir es nicht besser wissen wollen.
Nach der Wahl: Der Triumph der Belanglosigkeit
Doch was passiert nach der Wahl? Sind die großen Pläne und Versprechen plötzlich umgesetzt? Läuft alles wie geschmiert in die glorreiche Zukunft? Natürlich nicht. Stattdessen treten wir in eine neue Phase ein – die Phase der „Analyse“. Man könnte fast meinen, die Politiker hätten die letzten Monate im Koma verbracht, so erstaunt zeigen sie sich über die Ergebnisse der Wahl. „Wir müssen genau hinsehen, was die Menschen uns sagen wollten“, lautet die übliche Floskel. Sie stellen sich auf Podien, ihre Gesichter in demonstrativer Nachdenklichkeit gefroren, und tun so, als würden sie tatsächlich verstehen wollen, was geschehen ist. Dabei wissen sie genau, dass es egal ist. Sie haben gewonnen. Oder zumindest genug gewonnen, um weiterhin ihren Platz in der politischen Landschaft zu behaupten.
Denn nach der Wahl gibt es, wie wir wissen, keine Verlierer. Jede Partei hat „ihre Ziele erreicht“. Jede Partei „hat verstanden, was das Volk will“. Und jede Partei wird selbstverständlich „Verantwortung übernehmen“. Verantwortung für was? Nun, das bleibt unklar. Vielleicht Verantwortung dafür, dass sie sich weiter in der politisch opportunen Mittelmäßigkeit suhlen? Verantwortung dafür, dass sie alles tun werden, um sich ja nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen und bloß niemandem wirklich auf die Füße zu treten? Ja, das ist wahre Verantwortung. Ein Sieg für alle.
Die Kunst des Siegens: Wenn Verlierer Sieger sind
Es ist eine wunderbare Eigenschaft der modernen Demokratie: Es gibt keine Verlierer. Alle Parteien haben das erstaunliche Talent, selbst nach einer verheerenden Wahlniederlage noch irgendetwas Positives zu finden, das sie als „Erfolg“ verkaufen können. Die Partei wurde halbiert? „Nun, das zeigt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden und die Wählerbasis konsolidieren.“ Man hat nur noch zwei Prozent der Stimmen erhalten? „Das ist ein klares Signal dafür, dass wir die Menschen dort abholen müssen, wo sie sich gerade befinden.“ Und wenn man aus dem Parlament fliegt? „Wir haben nun die Möglichkeit, uns außerhalb der institutionalisierten Politik neu zu erfinden und uns auf die wahre Basisarbeit zu konzentrieren.“ In diesem Spiel gibt es keine Verlierer. Es gibt nur Sieger, und die echten Verlierer sind – wie immer – die Wählerinnen und Wähler.
Aber das ist ihnen auch längst egal. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass das System nicht für sie funktioniert. Sie haben gelernt, dass das ganze Spektakel der Wahlen nichts weiter als eine Politsoap ist, deren Drehbuch bereits geschrieben ist. Die Helden stehen fest, die Bösewichte auch – aber alle werden am Ende des Tages mit einem Siegerlächeln nach Hause gehen. Es ist eine der großartigsten Täuschungen der Moderne: Niemand kann verlieren, weil alle schon verloren haben.
Die Koalition der Zwecklosen
Nach der Wahl beginnt das eigentliche Theater. Die sogenannte „Koalitionsbildung“ ist die Parade des Zynismus. Parteien, die sich Wochen vorher noch gegenseitig bis aufs Blut bekämpft haben, entdecken plötzlich ihre „gemeinsamen Ziele“. Wo vorher noch Unterschiede wie unüberwindbare Schluchten inszeniert wurden, entsteht auf einmal Harmonie. Alle stehen bereit, „Verantwortung zu übernehmen“, denn – Überraschung! – auch hier gibt es nur Gewinner. Selbst die Parteien, die vor der Wahl geschworen haben, niemals miteinander zu koalieren, stellen fest, dass man „im Interesse des Landes“ doch zusammenarbeiten muss. Was sind schon Prinzipien, wenn es um die Macht geht?
Und was macht der Wähler währenddessen? Der Wähler wird wieder einmal vergessen. Seine Stimme war wichtig, als es darum ging, Macht zu generieren. Aber nun, da die Macht verteilt ist, spielt er keine Rolle mehr. Jetzt geht es nur noch darum, das System zu stabilisieren. Der Bürger kann zusehen, wie die „Experten“ regieren. Bis zur nächsten Wahl. Dann darf er wieder in den Zirkus eintreten, sich die schillernden Versprechen anhören und glauben, dass er tatsächlich eine Wahl hat.
Das politische Perpetuum Mobile: Nach der Wahl ist vor der Wahl
Und so dreht sich das Rad weiter. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die gleichen Gesichter werden wieder auftauchen, die gleichen Phrasen werden wieder gedroschen, und die gleichen Ergebnisse werden erzielt. Wir leben in einem politischen Perpetuum Mobile, in dem sich alles bewegt, aber nichts ändert. Es ist ein endloser Kreislauf des Scheins, der uns vorgaukelt, dass wir an einem großen Experiment der politischen Gestaltung teilnehmen. In Wahrheit sind wir jedoch nur die Statisten in einem gut geölten Schauspiel, das seit Jahrzehnten dieselben Akte aufführt.
Die Illusion der Wahl, der Demokratie, des Fortschritts – das sind die großen Täuschungen, die uns ruhigstellen sollen. Doch am Ende bleiben nur Sieger zurück. Die Politiker haben gewonnen, denn sie bleiben an der Macht. Die Parteien haben gewonnen, denn sie erhalten ihre Posten und Pfründe. Und das System hat gewonnen, denn es läuft weiter, unbeeindruckt von den kleinen Menschen, die alle paar Jahre an die Wahlurnen treten und glauben, sie könnten etwas verändern. Was bleibt, ist der tröstliche Gedanke, dass nach jeder Wahl alles wieder von vorn beginnt. Ein endloses Spiel, bei dem es nur eine einzige Regel gibt: Es gibt keine Verlierer, nur Sieger – und den Bürger, der sich stillschweigend fügt.
Quellenangaben und weiterführende Links
- Sartori, Giovanni: The Theory of Democracy Revisited. Chatham House Publishers, 1987.
- Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Westdeutscher Verlag, 1996.
- Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, 1927.
- Arendt, Hannah: On Revolution. Penguin Classics, 2006.
Weiterführende Links:
- The Atlantic: The Illusion of Political Choice
- BBC: Why Every Party Wins After the Election
- Democracy Index Report 2023