Die Stiefel hallen wieder über den Asphalt
Warum der Totalitarismus immer auf der Lauer liegt
Wenn ich genau hinhorche – und ich meine wirklich genau – höre ich sie wieder, die Stiefel. Sie marschieren nicht sofort, das wäre zu offensichtlich. Heute sind es Schritte, die vorsichtig, fast geräuschlos auf die neu asphaltierten Straßen eines politisch verwaschenen Europas gesetzt werden. Wie Schatten bewegen sie sich, die vergessenen Geister des Totalitarismus, als hätten sie die Zeit überdauert, die uns naiverweise glauben ließ, sie seien nur Gespenster der Geschichte. Aber die Zeit des Glaubens ist vorbei, wir sind aufgewacht – und die alte Dystopie klopft an unsere Tür. Die Frage ist nicht ob, sondern wann wir sie öffnen. Denn wenn wir ehrlich sind, wollten wir sie nie wirklich abschließen. Das „IV. Reich“ steht ante portas, und wir reichen ihm schon jetzt die Hand, einladend, fast bereitwillig.
Die Parallelen zur Vergangenheit sind kein Zufall. Sie sind bewusst arrangiert, wie in einem schlechten Theaterstück, das sich selbst nicht als solches erkennt. Europa steht heute an einem Scheideweg, ähnlich wie in jenen dunklen Jahren, als die Welt zynisch zusah, wie sich ein totalitärer Albtraum zusammenbraute. Damals trugen die Stiefel glänzendes Leder, heute kommen sie in schlichteren, weicher getrimmten Sohlen daher, aber der Tritt – oh ja, der Tritt bleibt derselbe. Der autoritäre Rhythmus hat sich verfeinert, er ist diskreter geworden, aber er ist noch da. Wartend. Er ist nie gegangen.
Der Schienenstrang der Nostalgie
Die Züge rollen noch nicht. Noch. Aber die Gleise sind schon gelegt. Irgendwo, in den stillen Winkeln unserer politischen und gesellschaftlichen Landschaft, sind die Schienennetzwerke bereits vorbereitet, glänzend und bereit, das Gewicht der neuen alten Ordnung zu tragen. Man darf dabei nicht denken, es handle sich um jene stählernen Monstrositäten von damals – das wäre zu plakativ, zu offensichtlich. Nein, die Züge der Gegenwart und nahen Zukunft sind sauber, umweltfreundlich und selbstverständlich komfortabel. Sie tragen das Siegel moderner Technologie, sind emissionsarm und energieeffizient. Der Totalitarismus 4.0 rollt auf Schienen aus Nachhaltigkeit, nicht wahr?
Was wird diese Züge antreiben? Kein dampfender Motor der alten Ideologien, sondern ein postmoderner Treibstoff, der sich als Pragmatismus tarnt. „Wir müssen doch was tun“, wird man sagen, während die Türen sich schließen und die Reise in Richtung Kontrollstaat beginnt. Und wir werden uns darauf einlassen, denn es ist bequem, in diesen Zügen zu sitzen. Komfort hat seine eigene, perfide Logik: Man merkt nicht, dass man mit Vollgas in die Vergangenheit fährt, solange der Sitz beheizt ist und der WLAN-Empfang stabil bleibt.
Der historische Analphabetismus als Tugend
Ein großes Missverständnis unserer Zeit ist die Annahme, Geschichte wiederhole sich nicht. Es mag sein, dass sie sich nicht als exakte Kopie zurückmeldet, aber sie reimt sich, wie Mark Twain es so treffend ausdrückte. Wir jedoch sind hervorragende Schüler der Verdrängung, Meister im Ignorieren der Lektionen, die uns der letzte große Zusammenbruch hinterlassen hat. Unsere Generation, die sich für so progressiv hält, hat sich mit einem historischen Analphabetismus angefreundet, der seinesgleichen sucht. Wo einst die Zeichen klar waren – Armbinden, Reden vor Fackelmeeren, Glorifizierung des Führerprinzips – gibt es heute verwischte Grenzen und nebulöse Ideologien, die sich geschickt in den Mainstream schleichen.
Der heutige Totalitarismus trägt keinen Hitlerbart und kein Hakenkreuz. Er braucht das nicht mehr. Er lebt von der Schwäche der Demokratie, die ihre eigenen Prinzipien nicht mehr verteidigen kann, ohne in endlosen Diskussionen über „Meinungsfreiheit“ zu verfallen, die letztlich nur den Extremisten nützen. Der moderne Despotismus macht keine aggressiven Ansagen, er flüstert. Er bedient sich einer ironischen Umkehr der Begriffe: Wo Freiheit draufsteht, ist längst Zwang drin, und wo Demokratie beschworen wird, tanzt die Autokratie nur einen Schritt hinter dem Vorhang.
Demokratie als Simulakrum
Die Demokratie unserer Zeit erinnert an einen Zirkus. Nein, besser: an eine Reality-Show. Es gibt Kandidaten, die wir wählen können, Debatten, die man führen darf, und Versprechen, die uns gemacht werden. Doch wie bei jeder gut inszenierten Show sind die Rollen lange vorher verteilt, die Handlung gescriptet. Was aussieht wie eine echte Wahl, ist nichts weiter als das Abhaken von vorher festgelegten Optionen, die sich auf den ersten Blick unterscheiden mögen, aber letztlich alle dem gleichen Narrativ folgen: Wir haben die Wahl zwischen verschiedenen Geschmacksrichtungen des Status Quo, der nur dazu dient, den Anschein von Demokratie aufrechtzuerhalten.
Was macht es schon, ob wir uns für den liberalen Autoritarismus oder den konservativen Kollektivismus entscheiden? Beide Optionen führen uns in den gleichen, dystopischen Endpunkt. Das „IV. Reich“ ist keine faschistische Diktatur in Braun, es ist eine technokratische Dystopie in Grau. Eine Welt, in der alles reguliert ist, bis hin zu unseren Gedanken. Es ist die Totalüberwachung unter dem Deckmantel der Sicherheit. Es ist der Verlust unserer Freiheit, verpackt in das Versprechen von Bequemlichkeit und Fortschritt.
Die neue Ordnung des Mitläufertums
Erinnern wir uns an die alten Zeiten, als man den Menschen vorwarf, Mitläufer gewesen zu sein? Es gibt diesen berühmten Satz: „Ich habe nur Befehle befolgt.“ Er klingt heute archaisch, fast naiv. Befehle befolgt? Das war gestern. Heute klatschen wir Beifall. Wir brauchen keine Befehle mehr, wir tun es freiwillig. Wir liefern unsere Daten, unsere Gedanken, unsere Freiheit bereitwillig ab und sagen, es sei für das Gemeinwohl. Für das große Ganze. Wir haben gelernt, uns selbst zu überwachen, uns selbst zu zensieren. Der Staat, das Regime – nennen Sie es, wie Sie wollen – muss uns nicht mehr zwingen. Wir tun es aus eigenem Antrieb, weil wir glauben, es sei das Richtige.
Und während die Züge der Zukunft sich langsam in Bewegung setzen, während die Stiefel rhythmisch den Boden berühren, blicken wir kaum auf. Denn die Bildschirme blenden uns, die Algorithmen bespaßen uns, und die Illusion von Freiheit hält uns ruhig. Das „IV. Reich“ braucht keine Gewalt, es braucht nur unsere Passivität. Der neue Totalitarismus kommt nicht durch die Hintertür, er wird auf der Hauptbühne aufgeführt – und wir sitzen in der ersten Reihe, lachen und applaudieren, während der Vorhang fällt.
Quellen und weiterführende Links
- Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst – Über die Gefahren der digitalen Manipulation und Überwachung.
- George Orwell: 1984 – Klassiker der Dystopien, ein immer noch erschreckend aktuelles Werk über die Gefahr des Totalitarismus.
- Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Ein tiefgründiges Werk über die Mechanismen des Totalitarismus.
- Christopher Browning: Ganz normale Männer – Eine Untersuchung darüber, wie „normale“ Menschen zu Tätern werden.
- Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus – Ein Blick auf die moderne Überwachung und den Verlust der Privatsphäre durch den digitalen Kapitalismus.
- Yuval Noah Harari: Homo Deus – Über die Zukunft der Menschheit und die möglichen dystopischen Entwicklungen.