Der Upgrade, den niemand bestellt hat

Wenn die Spielregeln nicht mehr passen, ändern wir einfach das Spiel

Es war ein kalter Februarmorgen im Jahr 2020, als die Demokratie in Deutschland beschloss, sich selbst neu zu erfinden. Völlig unvorbereitet stand sie im Erfurter Landtag, als Thomas Kemmerich, FDP-Politiker mit der Aura eines Steuerberaters, plötzlich zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde. Gewählt von CDU und – Achtung, festhalten – der AfD. Skandal! Oder wie wir heute sagen würden: eine Gelegenheit zur kreativen Umgestaltung der Demokratie. Schließlich ist die Demokratie nichts Statisches, sondern ein flexibles Konzept, das sich immer an die Erfordernisse der Zeit anpasst. Willkommen in der Demokratie 2.0, wo das Wahlergebnis nicht zählt, solange es den Falschen gefällt.

Die Empörung war gewaltig, die Schlagzeilen laut. Und als wäre das nicht genug, meldete sich auch noch Angela Merkel aus der Ferne zu Wort. Nicht von irgendeinem Ort, nein, sie sprach aus Südafrika, dem fernen Kontinent der Elefanten und majestätischen Landschaften. Zwischen Elefantenherden und Agitprop-Erinnerungen fand die Kanzlerin die Zeit, um ihr Urteil über das Wahlergebnis zu fällen: „Unverzeihlich!“ Ein Wahlergebnis, das rückgängig gemacht werden müsse. Nun ja, Demokratie hin oder her, wenn das Ergebnis nicht passt, dann eben: zurück auf Anfang. Dass Frau Merkel zu diesem Zeitpunkt nicht mehr CDU-Vorsitzende war? Ein Detail am Rande. Wichtiger war die moralische Führung, die über Parteigrenzen hinweg auch in Übersee von einem elefantösen Gedanken angetrieben wurde.

WEITERE ARTIKEL:  Bürokratie als Selbstzweck

Wenn Wahlergebnisse nicht passen

Nun ja, in der Demokratie 2.0 gelten neue Regeln. Und das ist auch gut so, denn wer will schon in einer Demokratie leben, in der plötzlich das Ergebnis von demokratischen Wahlen zählt? Merkel’s Mandat war klar: Diese Entscheidung war falsch, und wie jede weise Monarchin musste sie dafür sorgen, dass alles wieder in die richtige Bahn gelenkt wird. Ein schlechter Tag für die Demokratie? Ja, aber nicht etwa, weil Kemmerich gewählt wurde, sondern weil der Wähler tatsächlich noch geglaubt hatte, dass seine Stimme zählt! Wie naiv von ihm. In der Demokratie 2.0 ist die Stimme des Volkes eine nette Anregung – eine Art Wunschzettel an den Weihnachtsmann, der dann aber im Politbüro überprüft wird, ob diese Wünsche auch in den Leitfaden der moralischen Integrität passen.

Natürlich konnten wir das nicht unkommentiert lassen. Die Medienlandschaft explodierte förmlich, Politiker schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und moralische Kommentatoren jagten sich gegenseitig in einem Wettbewerb um die beste Empörung. Und da kam sie, die altbewährte Redewendung: „Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.“ Ja, tatsächlich. Aber der schlechteste Tag für die Demokratie war nicht der Tag der Wahl, sondern der Tag, an dem wir anfingen, Wahlergebnisse aufzuheben, weil sie nicht den gewünschten Ausgang hatten. Die Demokratie 2.0 hatte endgültig ihren Weg in die Post-Wahrheit gefunden, wo Moral über das Gesetz triumphiert und Ergebnisse verhandelbar sind. Schließlich kann es ja nicht sein, dass eine Partei, die man moralisch ablehnt, tatsächlich Einfluss auf ein Wahlergebnis hat, oder?

WEITERE ARTIKEL:  Ich bin ein ökonomischer Trottel

Ein Hindernis auf dem Weg zur perfekten Demokratie

Doch halt, da gibt es noch eine Kleinigkeit, die uns aufhält: das Grundgesetz. Dieses sperrige Dokument aus grauer Vorzeit, das irgendwie noch immer als Referenz herhalten muss, wenn man moralische Entscheidungen politisch absichern will. Und siehe da: Das Bundesverfassungsgericht schlug zurück. In einem seltenen Moment der institutionellen Selbstachtung erklärten die Richter, dass Frau Merkel, als sie aus dem majestätischen Afrika heraus in die politischen Geschicke Thüringens eingriff, doch tatsächlich den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verletzt hatte. Ein Urteil, das nicht etwa als Sensation galt, sondern vielmehr wie ein gut gemeinter, aber ungehörter Zwischenruf im Konzert der kollektiven Empörung verhallte.

Aber was ist schon das Grundgesetz gegen die Macht des moralischen Imperativs? In der Demokratie 2.0 spielt es keine Rolle, ob eine Entscheidung rechtlich fragwürdig ist. Solange sie moralisch gerechtfertigt wird, darf sie Bestand haben. Es gibt keine schlechten Ergebnisse, sondern nur schlechte Absichten – und wenn diese Absichten der Demokratie widersprechen, dann muss die Demokratie eben neu definiert werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mag einen temporären Sieg für die alte Demokratie darstellen, doch wer genau hinsieht, erkennt: Die Demokratie 2.0 lebt und gedeiht, befreit von den lästigen Fesseln der Chancengleichheit und der Unabhängigkeit der politischen Parteien. Und wenn sich das Volk nicht anpassen will? Nun, dann ist es eben auch das falsche Volk, und wir müssen uns überlegen, wie wir das korrigieren können. Man könnte ja die Wahlen in Zukunft gleich abschaffen. Demokratie 3.0?


Quellen und weiterführende Links:

  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Az. 2 BvE 4/20 u.a.
  • Artikel zur Kemmerich-Wahl in Thüringen: Diverse Nachrichtenseiten
error: Nö, geht nicht.