DEMOKRATIE AM ENDE

DEMOKRATIE IN DER EROSION

Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Geschichte, den wir zunehmend als „Zeitenwende“ begreifen. Diese Zeitenwende bezieht sich nicht nur auf geopolitische Unruhen oder klimatische Katastrophen, sondern vor allem auf das schleichende und kontinuierliche Schwinden der Demokratie. Vor etwa einem Vierteljahrhundert prognostizierte der Soziologe Ralf Dahrendorf in einem prägnanten Essay, dass das 21. Jahrhundert eher von autoritären als von liberal-demokratischen Systemen geprägt sein könnte. Er stellte die Frage, ob wir am Anfang eines „autoritären Jahrhunderts“ stünden – und bejahte diese Frage mit deutlicher Überzeugung. Heute, 25 Jahre später, sehen wir uns mit genau dieser Realität konfrontiert: Die Demokratie, lange als Erfolgsmodell gefeiert, scheint auf dem Rückzug, während autoritäre Systeme an Attraktivität gewinnen. Doch wie konnte es zu diesem alarmierenden Zustand kommen?

Die Ursachen für das Schrumpfen der Demokratie sind vielfältig und tief verwurzelt. Die Kombination aus wirtschaftlicher Unsicherheit, sozialer Ungleichheit und politischer Polarisierung hat das Vertrauen in die demokratischen Institutionen untergraben. Bürger, die einst von Idealismus und Überzeugung geleitet wurden, suchen zunehmend nach alternativen Systemen, die scheinbar schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme bieten – Systeme, die oft mit der Langsamkeit und den Komplikationen demokratischer Prozesse unvereinbar sind.

Illiberale Demokratie: Ein Erfolgsmodell?

Ein exemplarisches Beispiel für diese Zeitenwende ist die sogenannte „illiberale Demokratie“, wie sie in Ungarn unter Viktor Orbán gedeiht. Orbán hat ein System etabliert, das auf den ersten Blick demokratisch wirkt: regelmäßige Wahlen, eine funktionierende Verwaltung und nationale Souveränität. Doch unter dieser Oberfläche zeigt sich eine besorgniserregende Tendenz zum Autoritären. Orbán präsentiert sich als Verteidiger der kulturellen Identität Ungarns, als Schutzpatron vor massenhafter Migration und als Bollwerk gegen islamistische Bedrohungen, während andere europäische Länder mit diesen Herausforderungen kämpfen.

Was besonders bemerkenswert ist, ist die Tatsache, dass Ungarn trotz dieser Politik nicht die Deindustrialisierung erfährt, wie sie in vielen westlichen Ländern fortschreitet. Die ungarische Wirtschaft bleibt robust, da Ungarn sich weigert, den dogmatischen Anforderungen der Globalisierung blind zu folgen. Dies wirft eine kritische Frage auf: Sind solche illiberalen Systeme tatsächlich weniger legitim als die wankenden Demokratien des Westens? Ist die Demokratie selbst möglicherweise Opfer ihrer eigenen Illusionen geworden? Diese Fragen fordern eine grundlegende Neubewertung der Effektivität und Integrität demokratischer Systeme im Vergleich zu autoritären Regimen.

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Von China lernen heißt siegen lernen

Während sich westliche Demokratien zunehmend in interne Konflikte verstricken, gewinnt das chinesische Modell an Einfluss. China präsentiert eine technokratische, autoritäre Regierung, die wirtschaftlichen Erfolg und soziale Stabilität über individuelle Freiheiten stellt. Auch wenn die Einschränkungen der Menschenrechte in China schwerwiegend sind, beeindruckt die Fähigkeit des Landes, seine Bürger zu überwachen, wirtschaftlich zu expandieren und seine globale Machtposition zu stärken.

In Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern gibt es bereits Bestrebungen, Elemente dieses Modells zu übernehmen. Das Social Credit System, das in China zur umfassenden Überwachung und Steuerung der Bevölkerung eingesetzt wird, soll ab 2030 auch in Deutschland eingeführt werden – zunächst „freiwillig“, aber mit der Perspektive auf obligatorische Anwendung. Dieses Paradox offenbart sich als bedrohliche Realität: Unter dem Deckmantel von Sicherheit und Effizienz wird die Demokratie schrittweise in ein Überwachungssystem überführt, in dem Freiheit nur noch als leere Hülle existiert. Der Staat agiert nicht mehr als Beschützer der Freiheit, sondern als Lenker des Verhaltens seiner Bürger.

Die Wähler des Autoritarismus

Ein oft übersehenes Phänomen ist die Tatsache, dass bestimmte Gruppen in westlichen Demokratien autoritäre Systeme unterstützen. Migrantische Gemeinschaften, insbesondere türkische Expats in Europa, neigen dazu, den türkischen Präsidenten Erdoğan zu unterstützen, dessen Macht weit über die demokratischen Normen hinausgeht. Während diese Menschen in demokratischen Ländern leben und von deren Rechten profitieren, bleibt ihre Loyalität einem Führer treu, der die Demokratie in der Türkei systematisch untergräbt.

Diese Realität stellt eine drängende Frage: Können Demokratien ohne Demokraten überleben? Wie stabil ist ein System, wenn große Teile der Bevölkerung nicht an seine Werte glauben? Das Beispiel der Weimarer Republik zeigt, wie fragil eine Demokratie sein kann, wenn ihre Bürger nicht bereit sind, für ihre Prinzipien einzutreten. Die Unterstützung von Erdoğan durch die türkische Diaspora könnte ein beunruhigendes Vorzeichen für die Stabilität westlicher Demokratien darstellen.

Ein systemischer Widerspruch

Ein weiterer kritischer Aspekt, der die westlichen Demokratien auf die Probe stellt, ist der wachsende Einfluss des Islam. Es geht dabei nicht nur um eine Religion, sondern um eine umfassende gesellschaftliche und rechtliche Ordnung, die in vielen Aspekten mit den Prinzipien der liberalen Demokratie unvereinbar ist. Der politische Islam strebt nicht nur danach, Einfluss auf den öffentlichen Raum zu gewinnen, sondern fordert auch die Implementierung der Scharia – eines Rechtssystems, das in vielen Teilen den rechtsstaatlichen Prinzipien westlicher Demokratien widerspricht.

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Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass selbst hochrangige Vertreter der politischen Elite, wie der Vorsitzende der Grünen in Deutschland, Omid Nouripour, die Anwendung bestimmter Teile der Scharia befürworten, wenn sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Diese Bereitschaft zur Selbstaufgabe, um dem Vorwurf der Intoleranz zu entgehen, steht exemplarisch für eine Politik, die ihre eigenen Prinzipien aufgibt. Kann eine Demokratie, die bereit ist, ihre Werte so weit zu relativieren, langfristig überleben?

Demokratische Selbstaufgabe

Die zentrale Frage in diesem Kontext ist, wie die Demokratie auf all diese Entwicklungen reagiert – oder besser gesagt, wie sie nicht reagiert. Die westlichen Demokratien haben es zunehmend verlernt, sich zu verteidigen. Sie sind getrieben von einer Vorstellung von Toleranz, die zunehmend zur Selbstaufgabe verkommt. Im Versuch, alle Meinungen, Kulturen und Ansprüche gleichwertig zu behandeln, hat die Demokratie ihre Fähigkeit verloren, klare Grenzen zu setzen und ihre eigenen Prinzipien zu wahren.

Die Folge ist eine Demokratie ohne Demokraten – ein System, das sich seiner eigenen Feinde nicht bewusst ist oder sie nicht zu erkennen bereit ist. Wie über die Weimarer Republik gesagt wurde: Ein demokratisches System kann nur funktionieren, wenn die Menschen, die es bevölkern, auch Demokraten sind. Doch in einer Zeit, in der autoritäre Strukturen an Popularität gewinnen und demokratische Werte zunehmend erodieren, wird diese Voraussetzung immer fragiler.

Toleranz am Abgrund

Wie kann die Demokratie angesichts dieser Herausforderungen gerettet werden? Es bedarf einer Rückbesinnung auf das Wesentliche: die Verteidigung individueller Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, aber auch die Fähigkeit, klare Grenzen zu ziehen. Toleranz darf nicht als Schwäche missverstanden werden; sie ist nur dann eine Stärke, wenn sie in den Diensten der Freiheit steht und nicht zur Selbstverleugnung führt.

Die Demokratie muss lernen, sich gegen die Kräfte zu behaupten, die sie von innen aushöhlen – sei es durch autoritäre Eliten, religiösen Extremismus oder eine Kultur der Gleichgültigkeit. Nur wenn sie ihre Prinzipien klar definiert und verteidigt, hat sie eine Chance, die gegenwärtige Krise zu überstehen. Andernfalls wird sie, wie Ralf Dahrendorf es bereits vor 25 Jahren befürchtet hat, von den autoritären Kräften des 21. Jahrhunderts endgültig verdrängt werden.

In einer Zeit, in der sich die Grenzen zwischen Toleranz und Selbstaufgabe zunehmend verwischen, steht die westliche Demokratie am Scheideweg. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, sich gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen, sondern auch darin, die eigenen Prinzipien zu bewahren und neu zu definieren. Nur durch eine klare Positionierung und eine entschlossene Verteidigung ihrer Werte kann die Demokratie ihre Zukunft sichern.

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