Blutdruck ja, Geschlecht nein – die Medizin kennt ihre Grenzen

Die unbezweifelbare Fluidität des Universums

Wenn wir an den Beginn aller Zeiten zurückkehren, zum großen Urknall, in welchem die Materie ihr erstes Ich-Bewusstsein erlangte, dann erkennen wir, dass bereits damals die Atome selbst eine schier unüberschaubare Ambiguität in ihren Bestrebungen offenbarten. War es ein Elektron, oder doch ein Neutrino, welches diese oder jene Bahn durchlief? Könnte es sein, dass auch die Teilchen, diese kleinsten Bausteine der Realität, von einem unbändigen Drang zur Fluidität getrieben sind? Vermutlich. So wie die Quantenmechanik keine genaue Festlegung darüber erlaubt, wo ein Elektron sich gerade aufhält, können wir im Jahre 2024 offenbar keine Klarheit mehr darüber erwarten, welches Geschlecht ein Mensch besitzt, zumindest nicht, ohne ihn zu beleidigen oder, noch schlimmer, zu kriminalisieren.

Hier kommt Sven Lehmann ins Spiel, seines Zeichens Queer-Beauftragter der deutschen Bundesregierung. Seine These lautet: „Welches Geschlecht ein Mensch hat, kann kein Arzt von außen attestieren.“ Ein kühner Satz, der das Potenzial besitzt, die wissenschaftliche Welt wie ein Atomkern in die nächstbeste Supernova zu sprengen. Was früher der simple Blick unter die Bettdecke erledigen konnte, erfordert heute die sorgfältige Abwägung innerer, sozial konstruierter Selbstbilder, die auch einem Schrödingerschen Experiment entlehnt sein könnten. Denn: Solange niemand sich in seiner Identität festgelegt fühlt, existieren sämtliche Möglichkeiten – weiblich, männlich, divers – gleichzeitig, und erst wenn die eigene innere Kiste geöffnet wird, lüftet sich der Schleier der Realität. Wer also ist der Arzt, der es wagen könnte, ein Geschlecht von außen zu diagnostizieren, wenn die Essenz des Seins selbst eine unfassbare Unschärferelation ist?

Diagnostik der Seele

Nun stellen wir uns den Arzt vor, diesen Gelehrten der Naturwissenschaft, ausgestattet mit Stethoskop, Ultraschall und jahrhundertelanger Medizingeschichte. Die meisten von uns sehen ihn als jemanden, der dank seines Wissens über Biologie, Anatomie und Embryologie in der Lage ist, objektive Urteile zu fällen. Doch Sven Lehmann erinnert uns, dass der Körper bloß die Hülle ist, eine materielle Ablagerung, über die der wahre Kern des Menschen – seine Identität – erhaben ist. Denn die Identität, so scheint es, ist eine flüchtige, nebulöse Konstruktion, die sich den quantitativen Messungen und den objektiven Diagnosen entzieht.

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Die Vorstellung, dass die Biologie uns nur eingeschränkt Auskunft über unser Geschlecht gibt, lässt uns in tiefe philosophische Abgründe blicken. Was, wenn auch andere Diagnosen des Körpers in Zweifel gezogen werden müssten? Wenn Blutdruck, Herzfrequenz und Hirnaktivitäten bloß unzulängliche Signale sind, die über unsere wahre Verfassung hinwegtäuschen? „Wahrheit“ könnte sich schließlich als von Emotionen geleitetes Phänomen herausstellen, und das Herzklopfen, das die Ärzte messen, sei bloß ein Symptom von unterdrückten Kindheitstraumata, die die wahre Diagnose verdecken. Die neue Ära der Diagnostik wird kommen: Statt Stethoskopen nutzen wir dann Instagram-Stories und Tweets, um in die Tiefen der Seele zu blicken.

Im Reich der Selbstbestimmung

Die große Errungenschaft unserer modernen Gesellschaft ist die Freiheit, zu sein, was immer man sein möchte – jedenfalls im Kopf. Wer sich als Ferrari identifiziert, darf dies ohne Widerspruch tun, solange man nicht versucht, sich auf der Autobahn als solcher fortzubewegen. So, argumentieren die Verfechter der neuen Identitäts-Theorie, sei es auch mit dem Geschlecht. Der Körper, diese lästige Ansammlung von Haut, Fleisch und Knochen, mag den Anschein erwecken, eine Aussage darüber treffen zu können, welchem Geschlecht man angehört – aber lassen wir uns nicht täuschen! Es ist die innere Wahrheit, die zählt. Das „innere Ferrari-Sein“ wiegt schwerer als die Tatsachen des äußeren Ford Focus.

Dies führt uns in die wunderbar ambivalente Welt der Selbstbestimmung, in der ich nicht nur entscheide, welches Geschlecht ich heute trage, sondern ob ich dies auch morgen noch tun möchte. Der morgendliche Gang zum Kleiderschrank, ein Kaleidoskop der Möglichkeiten: Heute männlich, morgen weiblich, übermorgen gar nichts von beidem, oder vielleicht alles zugleich? Hier liegen die Chancen für eine Gesellschaft, die längst über starre Kategorien hinausgewachsen ist. Die einzige Grenze, die bleibt, ist die Selbstermächtigung – und der gelegentliche Wunsch nach einem rechtlich bindenden Geschlechtseintrag, aber das ist nur eine Formalität.

Der Arzt als gesellschaftlicher Unterdrücker

Sven Lehmanns Diktum enthält nicht nur eine Weisheit über die Begrenztheit der Medizin, sondern auch eine deutliche Absage an die Macht, die Ärzte über die Geschlechtsbestimmung ausüben. Denn in einer Gesellschaft, die sich stets über patriarchale Strukturen beklagt, sind Ärzte, vor allem männliche, längst zu Agenten dieser Unterdrückung geworden. Der Arzt ist nicht mehr der Heilkundige, sondern der Vollstrecker alter, verkrusteter Normen.

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Stellen Sie sich vor: Ein Mensch betritt die Praxis, unsicher in seiner Identität, und der Arzt wagt es, anhand einfacher Chromosomen oder physischer Merkmale eine Aussage zu treffen! Dies wäre gleichzusetzen mit einem kolonialistischen Akt, bei dem der Arzt das Individuum enteignet und auf einen beliebigen Buchstaben – M, W, D – reduziert. In Wahrheit ist es der Arzt, der sich therapieren lassen sollte, der sich von seinem allwissenden Überlegenheitsgefühl befreien muss, damit die wahre Identität endlich durch die Krankenkassenabrechnung hindurchleuchten kann.

Der letzte Schritt in die Zukunft

Und so schreiten wir in die strahlende Zukunft der post-biologischen Gesellschaft, in der nichts mehr festgelegt, nichts mehr fix ist. Die Wissenschaft hat ausgedient, die Philosophie verheddert sich in ihren eigenen Konzepten und die Politik schafft Freiräume, in denen sich jede Wahrheit nach Belieben formen lässt. Sven Lehmann steht hier nur an der Spitze eines neuen Zeitalters, in dem selbst die fundamentalen Naturgesetze zur Disposition stehen. Gravitation? Nur eine Frage der Perspektive. Relativität? Ein soziales Konstrukt. Geschlecht? Ein bloßes Missverständnis der Evolution.

Am Ende bleibt die Frage: Was kommt danach? Wenn der Arzt nichts mehr diagnostizieren darf, was sagt uns dann der Blick in den Spiegel? Wer entscheidet dann, was wir sind? Die Antwort: Wir selbst. Doch wie lange wird es dauern, bis auch diese Selbstbestimmung in Frage gestellt wird? Bis die Philosophen, die Gender-Theoretiker und die Bürokraten sich einig sind, dass wir auch uns selbst nicht mehr trauen dürfen?

Quellenangabe und weiterführende Links

  1. Lehmann, Sven. „Welches Geschlecht ein Mensch hat, kann kein Arzt von außen attestieren.“ Interview mit der Süddeutschen Zeitung, April 2023.
  2. Butler, Judith. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge, 1990.
  3. Karkazis, Katrina. Fixing Sex: Intersex, Medical Authority, and Lived Experience. Durham: Duke University Press, 2008.
  4. Böhmermann, Jan. „Das letzte Hemd hat keine Tasche – und kein Geschlecht!“ ZDF Magazin Royale, Sendung vom 16. Februar 2024.
  5. Müller, Sabine. „Die Geschlechterfrage und der Umsturz der Medizin“. Artikel in der Zeit, Mai 2023.

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Möge der Diskurs nie enden, auch wenn der Arzt schweigt.

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