Die Alchemie der Relativierung
Ab wann sind Einzelfälle keine Einzelfälle mehr
Es gibt eine mystische Zahl, eine geheimnisvolle Grenze, die niemand genau bestimmen kann, aber deren Macht unübersehbar ist: die Grenze, ab wann Einzelfälle plötzlich keine Einzelfälle mehr sind. Diese Zahl ist das bestgehütete Geheimnis unserer Zeit. Sie ist so flüchtig wie die Hoffnung auf flächendeckendes WLAN im ländlichen Raum und so unsichtbar wie der rosa Elefant im Raum – ein Thema, das Journalisten, Politiker und moralisch entrückte Intellektuelle gleichermaßen beschäftigt. Wer sich dieser Zahl nähert, riskiert entweder, als zynischer Populist oder als naiver Weltverbesserer abgestempelt zu werden. Doch keine Angst, ich nehme dieses Risiko mit einem Augenzwinkern in Kauf.
Einzelfälle – sie sind der Goldstandard der beschwichtigenden Argumentation. Das Allheilmittel derer, die immer die Ruhe bewahren und die Welt durch die rosarote Brille betrachten, durch die selbst der schwarze Rauch von brennenden Autos in Großstädten wie ein harmloser Nebelschleier wirkt. In den heiligen Hallen der politischen Korrektheit gibt es keinen Raum für Hysterie. Kein Raum für kollektive Empörung. Denn „es sind ja nur Einzelfälle“, ruft die beschwichtigende Stimme aus den polierten Rednerpulten, während man uns freundlich, aber bestimmt den moralischen Zeigefinger entgegenstreckt. Aber ab wann, meine Damen und Herren, erheben sich die Einzelfälle zu einem Phänomen, das man mit einem müden Achselzucken nicht mehr abtun kann?
Die hohe Kunst der Einzelfallbeschwörung
Einzelfälle haben etwas Magisches an sich. Sie sind wie die unartigen Kinder einer ansonsten mustergültigen Familie. Man kennt sie, man schimpft kurz, aber niemand wagt es, die Existenz des Problems als systematisch zu begreifen. Die wahre Magie liegt in der Häufigkeit dieser Einzelfälle, die jedoch nie so zahlreich zu sein scheinen, dass sie ihre noble Statuslosigkeit verlieren. Schließlich gibt es keine harte Regel dafür, wann aus Einzelfällen Serienfälle werden. Es ist eine Frage des Blickwinkels, und der ist, wie wir wissen, subjektiv.
In den Medien wird mit den Begriffen „Einzelfälle“ und „bedauerliche Vorkommnisse“ jongliert wie ein Zirkusartist mit brennenden Fackeln. Der Leser wird durch den kunstvollen Einsatz von Relativierungen immer wieder auf die beruhigende Zahl „eins“ zurückgeführt. Selbst wenn das summierte „Eins“ mathematisch bereits dreistellig geworden ist. Es sind ja nur einige wenige, die für Schlagzeilen sorgen – ein paar Verirrte, ein paar tragische Missverständnisse. Denn der wahre Feind ist nicht etwa das, was passiert, sondern die unverantwortliche Zuspitzung der Ereignisse. Die gefürchtete „Instrumentalisierung“ der Einzelfälle. Wir könnten fast meinen, die mediale Berichterstattung wolle uns sagen: „Wen kümmert es, wenn ab und zu der Himmel einbricht, solange er nicht ständig einbricht?“
Einzelfall oder nur Zahlendreherei?
Statistik, so heißt es, lügt nicht. Doch die Interpretation der Statistik, meine lieben Freunde, ist die höchste Kunst der modernen Täuschung. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache, aber wie diese Sprache übersetzt wird, das liegt ganz in der Hand jener Meister der Manipulation, die es verstehen, uns Einzelfälle wie Konfetti um die Ohren zu werfen, ohne dass wir die daraus resultierende Müllhalde bemerken. Man kann die Frage, ab wann Einzelfälle keine Einzelfälle mehr sind, elegant umgehen, indem man sich auf absolute Werte versteift. „Zwei Prozent? Das ist doch kein Problem!“ mag der eine sagen. Der andere aber, jener, der sich mitten im brodelnden Kessel der Gesellschaft bewegt, fragt sich vielleicht, ob diese zwei Prozent nicht wie die Spitze eines Eisbergs funktionieren – sichtbar, aber mit einem gewaltigen Unterbau.
Und da schwingt die nächste Erkenntnis in die Debatte: Es kommt nicht auf die absolute Zahl an, sondern darauf, wer betroffen ist. Sind es prominente Persönlichkeiten oder „normale Bürger“? Je nach Standpunkt und Einkommen wird die Definition von Einzelfällen elastisch wie ein Gummiband gedehnt. Politiker, die in vornehmen Vierteln residieren, sehen das alles mit der Gelassenheit eines Dalai Lamas. Einzelfälle mögen hier und da auftreten, aber sie tauchen nur in den Statistiken anderer Leute auf.
Einzelfall oder Systemversagen
Doch spätestens, wenn die Bevölkerung beginnt, sich im Dunkeln nicht mehr auf die Straße zu trauen, wird es schwierig, die hartnäckigen Einzelfälle einfach unter den Teppich zu kehren. Selbst die freundlichsten Beschwichtigungsversuche stoßen hier an ihre Grenzen. Aber keine Sorge! Die Elite der Relativierung wird uns auch hier retten. Das wahre Problem sei nicht der „Einzelfall“, sondern die mediale Überhitzung. Die Empörungskultur. Die laute, sensationsgierige Öffentlichkeit, die es wage, den Vorfall in Frage zu stellen.
Systematische Muster, so wird uns versichert, existieren nur in der überreizten Fantasie von Demagogen. Und selbst wenn wir hundert, fünfhundert oder tausend Einzelfälle haben, bedeutet das doch nicht, dass es eine Struktur oder ein Problem gibt. Nein, es sind lediglich statistische Ausreißer, in ihrer Aggregation bedauerlich, aber immer noch nicht alarmierend. Denn wenn man lange genug darauf beharrt, dass der Mantel der Verantwortungslosigkeit über der Wirklichkeit liegt, dann verschwindet das Unbehagen, und alles wird wieder normal.
Zahlen oder Moral
Aber zurück zu unserer Ausgangsfrage: Ab wann sind Einzelfälle keine Einzelfälle mehr? Die Antwort lautet – und ich wage es, das hier zu verkünden –: Es gibt keinen Konsens darüber, denn es gibt kein Interesse daran, einen Konsens zu finden. Einzelfälle sind das letzte Bollwerk gegen die unerbittliche Anerkennung eines tatsächlichen Problems. Wenn man einmal zugibt, dass eine bestimmte Schwelle überschritten ist, dann muss gehandelt werden. Und wer will das schon? Es ist viel einfacher, den Status quo zu wahren und die Dinge weiterhin als zufällige Anomalien abzutun.
Die ultimative Weisheit der modernen Politik besteht darin, die Grenze der Toleranz immer weiter zu verschieben, während man den Menschen einredet, es handle sich um „bedauerliche Einzelfälle“. Solange wir es schaffen, Einzelfälle als solche zu deklarieren, bleibt die Illusion einer funktionierenden Ordnung aufrecht.
Die Unerreichbarkeit der magischen Zahl
Abschließend bleibt zu sagen: Die Frage, ab wann Einzelfälle keine Einzelfälle mehr sind, bleibt so nebulös wie eh und je. Der wahre Trick besteht darin, das Thema so lange zu relativieren, bis der einzelne Fall einfach nicht mehr zählt. Und genau darin liegt die Meisterschaft moderner Rhetorik – Probleme verschwinden nicht, sie werden lediglich sprachlich neutralisiert. In diesem Sinne: Einzelfälle? Nichts weiter als statistische Fußnoten in der großen, wunderschönen Geschichte der Verdrängung.
Quellen und weiterführende Links
- „Wie Einzelfälle systematisch kleingeredet werden“ – Journal of Modern Euphemisms
- „Relativieren für Anfänger: Ein Crashkurs für politisch Korrekte“ – Handbuch der Beschwichtigung
- „Statistiken richtig lesen: Warum Zahlen lügen, wenn man es möchte“ – Lexikon der Zahlendreher
- „Die unsichtbare Grenze: Wann aus Einzelfällen Probleme werden“ – Philosophical Papers on Political Dynamics