Das Narrativ des Narratives
Die Herrschaft des Narrativs: König ohne Kleider
Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit, da war die Welt noch ein einfacherer Ort. Politikerredeten noch Klartext, Journalistberichteten schlicht die Fakten, und das Wort „Narrativ“ schmollte in den Ecken der akademischen Elfenbeintürme vor sich hin. Doch dann, irgendwann im frühen 21. Jahrhundert, kroch das Narrativ aus seinem intellektuellen Versteck und begann, die Welt zu erobern – Stück für Stück, Statement für Statement, bis sich alles, wirklich alles, in der öffentlichen Debatte um das „Narrativ“ drehte.
Heutzutage hat es den Anschein, als ob die Menschheit eine neue Religion gefunden hat: Das Narrativ. Keine Rede, kein Kommentar, kein Debattenbeitrag, der ohne das Zauberwort auskommt. Ob es um Klimawandel, Pandemien, Wirtschaftskrisen oder – natürlich – Identitätspolitik geht: Immer steht im Mittelpunkt das Narrativ. Wer kein Narrativ hat, der hat nichts, wer das falsche Narrativ vertritt, wird in der öffentlichen Arena ans Kreuz genagelt. So haben wir uns quasi von den Göttern verabschiedet und dem Narrativ den Thron überlassen – doch niemand traut sich zu fragen, was dieses Narrativ eigentlich anhat. Spoiler: Es trägt nichts. Der König ist nackt.
Die Kunst des intellektuellen Kartentricks
Das Schöne am Narrativ ist seine Unbestimmtheit. Es ist wie ein gut gespielter Kartentrick. Politikerund Journalistlassen uns glauben, dass sie die „Wahrheit“ in ihren Händen halten, doch in Wirklichkeit jonglieren sie nur mit geschickt geformten Anekdoten. Diese werden dann in einem ausgeklügelten Puzzlespiel so angeordnet, dass sie ein völlig neues Bild der Realität zeichnen – eines, das politisch nützlich, gesellschaftlich bequem und intellektuell kaum anzufechten ist.
Erlauben Sie mir ein einfaches Beispiel: Ein Politiker sagt, die Wirtschaft floriert. Prompt finden sich diverse Zeitungen, die dieses Narrativ begierig aufgreifen und mit Grafiken und Balkendiagrammen unterfüttern. Doch schauen Sie mal genauer hin: Irgendwo da draußen gibt es Menschen, die sich fragen, wo diese „blühende Wirtschaft“ denn tatsächlich zu sehen ist. Die Inflation galoppiert, die Mieten steigen, und die Löhne bleiben kläglich. Doch das Narrativ steht: „Die Wirtschaft floriert“, und jede kritische Stimme wird einfach in den Wind geschlagen – nicht, weil sie unrecht hat, sondern weil sie eben nicht ins Narrativ passt. Und wer will schon ein Spielverderber sein?
Der ewige Kreislauf der Absurdität
Doch das eigentlich Faszinierende am Narrativ ist seine Fähigkeit, sich selbst zu verschlingen. Haben Sie schon einmal beobachtet, wie ein Narrativ vom nächsten abgelöst wird, nur damit ein weiteres, noch absurderes folgt? Wir erleben dieses Spektakel regelmäßig in der politischen Arena. Nehmen wir den Bereich der Migration: Einmal wird das Narrativ „Geflüchtete sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft“ propagiert, dann wird es von „Geflüchtete sind eine Bedrohung für unsere Sicherheit“ abgelöst, nur um kurze Zeit später von einem „humanitären Narrativ“ überrollt zu werden, das beteuert, man müsse dringend allen Menschen helfen. Ein endloser Kreislauf von Narrativen, die sich gegenseitig an Geschwindigkeit überbieten, während das Publikum am Straßenrand steht und applaudiert.
Warum dieser ewige Wechsel? Ganz einfach: Ein Narrativ funktioniert immer nur so lange, bis das Publikum erkennt, dass es nicht mehr relevant ist. Und wenn die Realität so frech wird, das aktuelle Narrativ zu durchkreuzen, dann erfindet man eben ein neues. Politik gleicht einem Hütchenspieler auf dem Marktplatz, und wir, das Publikum, sind die Schaulustigen, die hoffen, dass sie diesmal richtig tippen.
Wer die Geschichte schreibt, hat schon gewonnen
Natürlich geht es bei Narrativen nicht einfach nur um leere Worte. Im Gegenteil: Sie sind das Werkzeug der Mächtigen, das unsichtbare Schwert, mit dem Debatten gewonnen werden, noch bevor sie begonnen haben. In der modernen Politik hat sich längst die Einsicht durchgesetzt, dass es nicht mehr darauf ankommt, was wahr ist – sondern welches Narrativ gewinnt. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass viele politische Diskussionen heutzutage eher wie Wrestling-Shows wirken? Da prallen keine Argumente aufeinander, sondern inszenierte Geschichten, die ihre jeweiligen Anhänger in kollektiven Jubel versetzen.
Im Narrativ-Kampf gibt es Gewinner und Verlierer. Wer das Narrativ dominiert, gewinnt die öffentliche Meinung, die Medien und letztlich die Macht. Ein gutes Narrativ muss nicht wahr sein, es muss nur glaubhaft klingen. Deshalb sind Politikerheute weniger um Fakten bemüht als um Geschichten. Und wenn die Realität am Ende mit der Story nicht mehr zusammenpasst – umso schlimmer für die Realität.
Die Vermählung von Narrativ und Clickbait
Doch Politikersind nicht allein in ihrem Narrativ-Rausch. Auch die Journalistenzunft hat sich längst zu den Hohepriesterdes Narrativs erhoben. Die einstige Wächterfunktion der vierten Gewalt ist zunehmend der Aufgabe gewichen, das passende Narrativ zu finden, das sich am besten verkaufen lässt. Geschichten – nicht Informationen – stehen im Zentrum der modernen Medienlandschaft. Und der Gipfel dieses erzählerischen Höhenflugs? Die Kombination von Narrativ und Clickbait.
Es ist kein Zufall, dass die Headlines von Nachrichtenportalen immer reißerischer und emotionaler werden. Wer möchte schon nüchtern von „differenzierten wirtschaftlichen Entwicklungen“ lesen, wenn es „Die Wirtschaft bricht zusammen: Nur ein Wunder kann uns noch retten!“ auch tut? Und so wird jedes Ereignis, jede Nachricht in das Narrativ der Katastrophe oder der Erlösung verpackt. Fakten? Wen interessieren die noch, wenn das Narrativ schon klickt?
Die Neuschöpfung der Realität
Inzwischen haben wir es mit einer Situation zu tun, in der das Narrativ nicht nur die Realität umschreibt – sondern eigene Realitäten schafft. „Alternative Fakten“ nennt man das, oder, wie George Orwell es in einer seiner weniger launigen Momente nannte: Neusprech. Da werden wissenschaftliche Erkenntnisse durch „alternative Erklärungen“ ersetzt, politische Entscheidungen durch „alternative Wahrheiten“ gerechtfertigt und gesellschaftliche Entwicklungen schlicht ignoriert, wenn sie nicht ins Narrativ passen.
Die Ironie des Ganzen? Wir sind uns dessen vollkommen bewusst. Wir sehen es, wir wissen es, wir leben damit. Und dennoch funktioniert es. Warum? Weil wir als Gesellschaft inzwischen süchtig nach Narrativen sind. Geschichten sind eingängig, sie geben uns Struktur, Sinn und Richtung – selbst wenn sie uns ins Leere führen. Fakten sind kompliziert, unübersichtlich und oft unangenehm. Narrative dagegen sind simpel, leicht verdaulich und geben uns das wohlig warme Gefühl, die Welt zu verstehen – selbst wenn wir uns in einer kollektiven Selbsttäuschung befinden.
Das Ende des Narrativs? Keine Chance!
Am Ende bleibt die Frage: Gibt es einen Ausweg aus diesem Narrativ-Wahnsinn? Können wir als Gesellschaft jemals wieder zu einer faktenbasierten Debatte zurückfinden, in der Argumente und nicht Geschichten die Oberhand gewinnen? Die Antwort, so zynisch es klingt, lautet: Wahrscheinlich nicht. Solange wir als Menschen nach einfachen Erklärungen und kohärenten Weltbildern hungern, solange werden uns die Narrative verführen.
Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm. Schließlich lieben wir Geschichten. Sie geben unserem Leben Sinn und Bedeutung – und sie bieten uns die Illusion, dass wir die Kontrolle über das Chaos haben, das uns umgibt. Das Narrativ des Narratives ist am Ende nichts anderes als der menschliche Versuch, die Welt in ein handliches, verständliches Format zu pressen. Auch wenn dieses Format manchmal mehr Fantasie als Realität ist.
Weiterführende Links und Quellen: