Zynismus in Tüten
Es gibt Momente im Leben, da möchte man die Welt einfach nur anzünden, sich zurücklehnen und zuschauen, wie sie in Flammen aufgeht. Diese Momente kommen besonders häufig, wenn Menschen aus den oberen Etagen der globalen Konzerne die Frechheit besitzen, uns ihr Weltbild zu erklären. Einer dieser Momente ereignete sich, als ein Vertreter von Nestlé sich erdreistete, die Essgewohnheiten der Menschheit auf drei Grundbedürfnisse zu reduzieren: Zucker, Salz und Fett. Aha! So einfach ist das also. Menschen kaufen Lebensmittel nicht etwa, weil sie Hunger haben, weil sie Genuss suchen oder weil sie überleben wollen. Nein, sie kaufen, weil sie – wie willenlose Lemminge – drei magischen Ingredienzien folgen: Zucker, Salz und Fett. Willkommen in der Welt der Corporate Logic, wo alles, aber auch wirklich alles, eine Frage der Chemie und Psychologie ist.
Nestlé, der Global Player, der uns mit teurem Wasser, gezuckerten Frühstücksflocken und anderen kulinarischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit versorgt, hat uns mal wieder den Spiegel vorgehalten. Aber dieser Spiegel ist verzerrt, und was wir darin sehen, ist das hässliche Gesicht des Kapitalismus, das uns grinsend durch die Supermarktregale entgegenlacht. Natürlich hat der Nestlé-Vertreter nicht ganz Unrecht – Zucker, Salz und Fett sind die Motoren der Lebensmittelindustrie. Aber was macht dieser dreiste Zynismus aus uns Konsumenten? Wollen wir wirklich nur chemisch getunte Geschmacksverstärker? Oder gibt es da noch so etwas wie Geschmack, Würde und das Streben nach einem halbwegs vernünftigen Lebensstil?
Nestlé – Der große Verführer
Die Strategie dieser Konzerne ist genial in ihrer Abgründigkeit: Sie bauen auf die tiefsten Instinkte des Menschen. Unser Körper liebt Zucker, weil er sofortige Energie liefert. Salz hält unseren Wasserhaushalt im Gleichgewicht. Fett ist ein hochkalorischer Energiespeicher, den wir seit Urzeiten schätzen. Das wusste auch Nestlé, als der Konzern begann, unsere Lebensmittel mit genau diesen Stoffen zu überschwemmen. Warum? Weil es schlichtweg funktioniert. Wir sind konditioniert auf Süßes, Salziges, Fettiges. Der perfekte Cocktail, um uns immer wieder zum Kaufen zu bewegen. Was spielt es da für eine Rolle, dass der Zucker Diabetes verursacht, das Salz den Blutdruck hochtreibt und das Fett uns in die Adipositas katapultiert? Für Nestlé sind das keine Probleme, sondern Geschäftschancen. Schließlich gibt es ja auch den Gesundheitssektor, den man bequem mit ins Boot holen kann. Die Zuckerkrankheit macht sich auch für die Pharmaindustrie bezahlt. So schließt sich der Kreis, und Nestlé gewinnt immer – egal ob wir uns am nächsten Müsliriegel verschlucken oder an unserer eigenen Blödheit.
Der Konsument als willfähriges Opfer?
Und hier kommt der große Vorwurf an uns Konsumenten ins Spiel. Es ist allzu leicht, die großen Konzerne als böse Drahtzieher zu verurteilen und sich selbst als unschuldiges Opfer darzustellen. Aber wie unschuldig sind wir wirklich? Niemand zwingt uns, die gezuckerten Getränke zu kaufen oder die salzigen Snacks in uns hineinzustopfen. Wir tun es freiwillig – weil es bequem ist, weil es schmeckt und weil wir es gewöhnt sind. Nestlé mag uns manipulieren, aber es bedarf eines gewissen Maßes an Kooperation unsererseits, damit diese Manipulation funktioniert. Und die leisten wir nur zu gerne. Wir greifen zur billigen Fertigpizza, weil wir keine Lust haben zu kochen. Wir trinken das Zuckerwasser, weil wir zu faul sind, uns an den Geschmack von reinem Wasser zu gewöhnen. Und wir tun so, als hätten wir keine Wahl, dabei leben wir in einer Welt, in der uns noch nie so viele Alternativen zur Verfügung standen.
Der Konsument ist nicht nur Opfer, er ist auch Täter. Wir sind es, die es Nestlé und Co. erlauben, mit Zucker, Salz und Fett den globalen Markt zu dominieren. Wir sind es, die den Riesen nicht in die Knie zwingen, sondern ihn auf unseren Schultern tragen. Und dabei wissen wir ganz genau, dass es besser geht. Es gibt bio, es gibt fair, es gibt regional. Aber diese Optionen kosten Zeit, Geld und manchmal auch das Gefühl, ein Teil des globalen Wohlstandsballetts zu sein. Das tut weh, und deshalb lassen wir es lieber bleiben.
Die zynische Logik des Erfolgs
Nestlé hat verstanden, dass es sich nicht lohnt, den Menschen zu viel zuzutrauen. Man gibt ihnen, was sie wollen – oder was sie glauben, dass sie es wollen – und freut sich, wenn die Kassen klingeln. Zucker, Salz, Fett – das ist das Rezept. Und der Trick besteht darin, diese drei Zutaten in möglichst vielen verschiedenen Formen zu verpacken. Ein kleiner Hauch von Exotik hier, ein bisschen „gesund“ da, und schon sieht das gleiche Zeug wie eine Innovation aus. Nestlé schafft es, sich als Retter in der Not zu verkaufen, indem es Produkte anbietet, die angeblich gesünder, umweltfreundlicher und ethisch vertretbarer sind – aber am Ende ist es nur der gleiche alte Cocktail. Der Verpackungsaufdruck „weniger Zucker“ ist nicht mehr als ein Marketingtrick, der uns die Illusion gibt, wir könnten guten Gewissens zuschlagen.
An der Wurzel des Übels: Der Konzernkapitalismus
Und genau hier muss man ansetzen. Es reicht nicht, sich über die Arroganz von Nestlé und Co. zu empören, man muss die gesamte Struktur hinterfragen. Konzerne wie Nestlé existieren nicht, um Menschen zu ernähren oder die Welt zu verbessern. Sie existieren, um Gewinn zu machen. Punkt. Und sie werden dabei immer den Weg des geringsten Widerstands gehen. Wenn der Weg zum Gewinn durch Zucker, Salz und Fett führt, dann wird eben mit diesen Zutaten gearbeitet. Wenn es morgen profitabler ist, vegane Bio-Produkte herzustellen, dann wird Nestlé genau das tun – nicht, weil der Konzern eine ethische Transformation durchläuft, sondern weil die Kalkulation eine andere wird.
Der zynische Kern dieses Systems liegt nicht in den Produkten, sondern in der Logik, die dahintersteht. Nestlé verkauft uns, was auch immer uns kauffreudig macht – egal ob es uns schadet oder nicht. Der Kapitalismus ist per se zynisch. Nestlé ist lediglich sein brillantester Vollstrecker.
Kann man den Teufel bekämpfen?
Es bleibt die Frage, was wir tun können. Reicht es, Nestlé zu boykottieren? Sollten wir uns alle zu ethischen Konsumenten wandeln, die nur noch handgepflückte Biokarotten kaufen? Oder liegt die Lösung darin, den Konzernkapitalismus an sich zu bekämpfen? Die Antwort ist unbequem: Der Konsument allein kann den Systemwandel nicht herbeiführen. Boykotte, individuelle Kaufentscheidungen und moralische Appelle sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Natürlich sollten wir uns für bessere, nachhaltigere und fairere Produkte entscheiden, wann immer es möglich ist. Aber solange die Strukturen, die Nestlé und Co. am Leben halten, intakt sind, wird sich nur wenig ändern.
Was wirklich gebraucht wird, ist eine grundlegende Neuausrichtung der globalen Wirtschaft. Konzernmonopole müssen aufgebrochen, Regulierungen verschärft und alternative Wirtschaftssysteme gefördert werden. Ein Konzern, der die natürlichen Ressourcen der Welt ausbeutet, Menschenrechte missachtet und uns mit Zucker, Salz und Fett füttert, kann nicht durch Konsumethik allein bezwungen werden. Es braucht politischen und gesellschaftlichen Druck – und das auf globaler Ebene.
Quellenangabe und weiterführende Links
- Zucker, Salz und Fett – Die dunkle Seite der Lebensmittelindustrie. Michael Moss, 2013.
- Nestlé – Wasserprivatisierung und ethische Kontroversen. Verschiedene Artikel von NGOs wie Food & Water Watch und Public Citizen.
- Weniger Zucker – Mehr Marketing?. Studie des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND).
- Corporate Zynismus in der Nahrungsmittelindustrie. Vortrag von Prof. Dr. Harald Welzer, 2019.
Weiterführende Links: