29. September – Ein Livebericht
„Der Wähler hat gesprochen“
Es ist der Abend des 29. September. Die Sonne ist über dem Land untergegangen, als die siegreichen Parteivorsitzenden wie die stolzen Feldherren einer antiken Schlacht vor die Kameras treten. Es ist immer dasselbe Schauspiel. „Der Wähler hat klar gesprochen,“ erklärt der Chef der Partei, die gestern knapp 28,5 Prozent der Stimmen erhalten hat. Klar gesprochen? In einer Demokratie, in der viele Bürgern der Wahl fernbleiben, klingt das wie ein missverstandenes Echo in einem fast leeren Saal. Aber wer achtet schon auf solche Details?
Natürlich wurde „ein klarer Auftrag erteilt“ – welchen genau, bleibt unklar, aber das muss ja nicht so wichtig sein. Der Sieg ist da, und das zählt. Verantwortung will man natürlich übernehmen. „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen,“ verkündet der Parteivorsitzende mit einem pathosgetränkten Grinsen, das ungefähr so echt wirkt wie ein Politikerschwur auf die eigene Integrität. Aber Verantwortung wofür? Für die nächsten fünf Jahre, in denen man unaufhaltsam und beinahe vergesslich durch Koalitionsverhandlungen navigiert, bevor man feststellt, dass das Wahlprogramm doch eher eine „Vision“ war als ein Plan.
Die siegreichen Redner holen tief Luft, um sich selbst zu feiern, als hätte man soeben das politische Äquivalent der Mondlandung vollbracht. „Das ist ein großer Erfolg für unsere Partei und ein klares Zeichen, dass die Menschen Veränderung wollen.“ Veränderung. Ein schöner Begriff. Die Frage ist nur, ob die Wähler tatsächlich eine neue Politik oder einfach nur neue Gesichter in den alten Positionen wollen. Doch wer fragt schon nach solchen Feinheiten? Heute wird gesiegt, und was morgen kommt, ist so unbestimmt wie der Haushalt der kommenden Legislaturperiode.
„Es war kein klarer Auftrag“
In der wunderbaren Welt der Politik, wo Worte wie „Vertrauen“, „Auftrag“ und „Verantwortung“ so oft gedroschen werden, dass selbst ein altes Mühlrad vor Neid erblasst, ist der zweite Platz plötzlich das neue Gold. Der Wähler hat gesprochen? Natürlich, aber wie ein Orakel, das in Rätseln spricht. Denn wer braucht schon eine absolute Mehrheit, wenn man sich mit 25 Prozent der Stimmen als das eigentliche Rückgrat der Demokratie verkaufen kann? „Wir haben den Finger am Puls des Volkes!“, rufen die Zweitplatzierten in die Mikrofone, während sie tapfer ignorieren, dass drei Viertel des Volkes offensichtlich lieber einen anderen Puls fühlen wollten. Doch in der Politik zählen keine echten Mehrheiten – sondern der, der am besten den Triumph der Niederlage verkauft.
Und so wird der Zweitplatzierte, der heimliche Sieger, zur perfekten Verkörperung des modernen Politikers: Flexibel wie ein Yoga-Meister, verbiegt er seine Interpretationen des Wahlergebnisses, bis auch die letzte Umfrage wie ein persönlicher Applaus klingt. Man war nicht stark genug, um zu gewinnen, aber man war wichtig genug, um nicht zu verlieren. Das ist die wahre Kunst der zweiten Plätze – wie ein Bronzemedaillegewinner, der behauptet, das Podium wäre immer sein Ziel gewesen. Denn wie jeder weiß: Wer den Sieg erringt, muss liefern. Der Zweitplatzierte hingegen darf mit ruhiger Miene abwarten, während der Sieger an der Realität zerschellt – und sich darauf freuen, beim nächsten Mal als „Weiser aus der Opposition“ glorreich zurückzukehren.
Medien, Experten und ihre wohlbekannten Weisheiten
Wie immer nach einer Wahl stürzen sich die Medien wie Raubvögel auf das Wahlergebnis. Es gibt Analysen, Diskussionen und endlose Kommentare. „Das Wahlergebnis war eine Überraschung.“ Überraschung? Wirklich? Vielleicht für die Meinungsforscher, die den Ausgang mal wieder gründlich daneben getippt haben. Vielleicht für jene Bürger, die nach Jahren des Desinteresses auf einmal feststellten, dass Politik tatsächlich noch eine Rolle spielt. Für die restlichen Prozent des Landes, die nicht gewählt haben, dürfte der Wahlausgang kaum von Interesse gewesen sein. Politik ist eben ein bisschen wie das Wetter: Man kann nichts dagegen tun, also warum sich damit beschäftigen?
Aber jetzt, wo die Koalitionsverhandlungen anstehen, versprechen die Kommentatoren Spannung. „Die Koalitionsverhandlungen werden schwierig,“ sagt der Politikexperte, als ob das jemals anders gewesen wäre. In Wahrheit wissen wir doch alle, dass am Ende irgendein halbgarer Kompromiss rauskommen wird, bei dem alle Beteiligten so tun, als hätten sie nicht gerade ihre gesamten Prinzipien über Bord geworfen. „Es wird spannend, wie die neue Regierung ihre Versprechen umsetzt.“ Spannend? Vielleicht für jene mit einer Vorliebe für politische Tragikomödien. Der Rest von uns weiß doch schon längst, dass Wahlversprechen das politische Äquivalent zu Einhornstaub sind: sie schimmern kurz auf, nur um dann spurlos zu verschwinden.
Und dann gibt es die allgegenwärtige Klage über die Wahlbeteiligung. „Die Wahlbeteiligung war enttäuschend,“ wird verkündet, als ob das die größte Überraschung des Tages wäre. Natürlich war sie enttäuschend. Wenn ein Großteil der Bevölkerung ohnehin das Gefühl hat, dass es egal ist, wer regiert, warum sollte man sich dann die Mühe machen, zur Wahlurne zu schleppen? Das Desinteresse ist nicht das Problem, sondern das Symptom. Das eigentliche Problem ist, dass die Politik inzwischen so austauschbar geworden ist wie das Sortiment eines Supermarktes – und ähnlich inspirierend.
Mal sehen, was die jetzt daraus machen
Die Wahl ist vorbei, und das Volk darf seine Meinung zum Besten geben. Einige sind erstaunt: „Das Ergebnis hat mich überrascht.“ Wirklich? Überrascht? War das Wahlsystem ein unerwarteter Gast auf der politischen Bühne? War es nicht vorhersehbar, dass derjenige, der am wenigsten falsch macht, den Sieg davonträgt? Doch für viele ist das Ergebnis eher eine Bestätigung dessen, was sie ohnehin schon wussten. „Es ist doch egal, wer gewinnt – am Ende bleibt alles gleich.“ Ein sentimentaler Satz, den man als bitteren Kommentar über den Zustand der Politik lesen könnte oder einfach als nüchterne Feststellung über die absolute Austauschbarkeit der politischen Klasse.
Andere hängen sich an die Hoffnung: „Ich hoffe, dass sich jetzt endlich etwas ändert.“ Hoffnung, diese wundervolle Illusion, die nach jeder Wahl neu entflammt wird, nur um wenige Monate später in der grauen Realität des politischen Alltags zu erlöschen. Was genau soll sich ändern? Nun ja, irgendwas. Vielleicht die Farbe der Plakate bei der nächsten Wahl oder die Frisur des Parteivorsitzenden.
Am Ende sind die Wähler doch so skeptisch wie immer: „Mal sehen, was die jetzt daraus machen.“ Ja, mal sehen. Wahrscheinlich nicht viel. Aber hey, die nächste Wahl kommt bestimmt – und dann beginnt das Theater von vorne.